Das Archiv der Sudetendeutschen
65 Jahre Sudetendeutsches Archiv / Sudetendeutsches Institut e.V.
Das Sudetendeutsche Institut in München wird 65 Jahre alt. Bei der Gründung neun Jahre nach Kriegsende trug es die Bezeichnung „Sudetendeutsches Archiv e. V.“, bis es 2009 zur Umbenennung kam. Das Sudetendeutsche Institut ist der Trägerverein des Archivguts der Sudetendeutschen, das seit 2007 im Bayerischen Hauptstaatsarchiv lagert und von diesem betreut wird. Kaum bekannt ist, dass man im Sudetendeutschen Archiv bereits vor über fünfzig Jahren an die Errichtung eines Sudetendeutschen Museums gedacht hat!
Das Gründungsdatum wird beim Vereinsregister mit dem 28. April 1955 angegeben. Männer der ersten Stunde waren u. a. der Obergerichtsrat Anton Wuschek (1922-1990) aus Langenradisch im Egerland, der Historiker und Journalist Dr. Heinrich Kuhn (1922-1997) aus dem mährischen Hohenstadt und der aus Schluckenau in Nordböhmen stammende Archivar und Professor Dr. Kurt Oberdorffer (1900-1982). Man hatte sich zur Aufgabe gestellt, Quellenmaterial zur Geschichte und Kultur der sudetendeutschen Volksgruppe zu sammeln und zu ordnen, Grundlagenarbeiten auf diesen Gebieten zu betreiben und kulturelle Einrichtungen der Sudetendeutschen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. So heißt es in der Zweckbestimmung der Gründungssatzung: „Dieses (das Archiv) soll der Erfassung, Auswertung und Dokumentation allen Quellenmaterials über den Sudetenraum, die Sudetendeutschen und die Sudetenfragen dienen.“
Erste Pläne für eine Dokumentationsstelle der Sudetendeutschen reichen in den Herbst 1953 zurück. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Richard Reitzner (1893-1962), Gründungsmitglied der Sudetendeutschen Landsmannschaft und der Seliger-Gemeinde, beriet sich mit den Archivaren Dr. Rudolf Schreiber (1907-1954) und Dr. Oberdorffer über die Gründung eines sudetendeutschen Instituts! (Briefwechsel Reitzner-Schreiber im Oktober und November 1953; SDA, NL Oberdorffer). Nach dem frühen Tod von Dr. Schreiber konkretisierte sich die Gründung eines eigenständigen Vereins „Sudetendeutsches Archiv e. V.“ im Frühjahr 1955 in enger Anlehnung an die Sudetendeutsche Landsmannschaft. Die Büroräume für den Geschäftsführer Dr. Kuhn und drei (später 5-8) Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter befanden sich bis zum Umzug in das Sudetendeutsche Haus 1985 im dritten Obergeschoß der Thierschstraße 17 im Münchner Stadtteil Lehel.
In den ersten beiden Jahrzehnten bildete das Sammeln historisch-kulturellen Quellenguts und zeitgeschichtlichen Materials, d. h. Publikationen, Dokumente, Bilder, Fotografien und Tonträger den Schwerpunkt der Archivtätigkeit. Bis 1975 konnten 21500 Bucheinheiten für die zusammen mit dem Collegium Carolinum betreute Fachbibliothek angeschafft werden (Stand 2018: 48.200). Bereits Ende der 1960er Jahre zeichnete sich der erhöhte Beratungsbedarf sudetendeutscher kultureller Einrichtungen v. a. der damals 80 Heimatarchive und Heimatmuseen (Heimatstuben) ab. Diese seien, wenn sie nicht mehr lebensfähig sind, „einem zentralen Sudetendeutschen Archiv und Museum in München zuzuführen“ (Organisationsplan vom 20.2.1969).
Zu diesem Zweck fand in Geislingen/Steige am 5./6.12.1970 eine erste Facharbeitstagung für die Betreuer der sudetendeutschen Heimatarchive, Heimatstuben und Heimatmuseen statt. Bis 2017 konnten 45 weitere Arbeitstagungen organisiert werden, die zum Teil auch dokumentiert sind. Unterstützung für die ehrenamtlichen Betreuer wurde mit den „Informationen für Sudetendeutsche Heimatsammlungen“ (1971-1990) und mit den „Jahrbüchern für sudetendeutsche Museen und Archive“ (1991-2002) vermittelt.
Seit 1971 zeichnete sich eine enge Verbindung mit der Sudetendeutschen Stiftung ab. 1980 publizierte das Archiv unter dem Titel „Vom Genossenschaftsvermögen zur Sudetendeutschen Stiftung“ das Grundlagenwerk zur Entstehungsgeschichte dieser Stiftung. Am 20.9.1993 hat die Sudetendeutschen Landsmannschaft dem Schirmherrschaftsministerium und dem Bundesinnenministerium das Konzept eines „zentralen musealen Schaufensters“ im Sudetendeutschen Haus vorgelegt. Dieses wurde vom damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Edmund Stoiber 1993 bestätigt. Daraus entwickelte sich unter Federführung der Sudetendeutschen Stiftung und des Sudetendeutschen Archivs ein Rahmenkonzept für die Errichtung eines „Sudetendeutschen Dokumentationszentrums mit Museum“ (31.5.2001). Leider wurde in den folgenden Jahren die seit 1958 gewährte institutionelle staatliche Förderung des Archivs eingestellt. Das hat eine lange Vorgeschichte. Schon 1996 meinte der für die Einrichtung zuständige Haushaltsreferent, dass 50 Jahre nach der Vertreibung für die Förderung der Sudetendeutschen genug seien. Seit 2007 erfolgt die Arbeit deshalb ehrenamtlich.
Von den herausragenden Publikationen des Archivs können hier nur einige wenige genannt werden. In der Anfangszeit trug das Archiv über 1000 Berichte im Band IV der großen Dokumentation der Bundesregierung zur Vertreibung der Deutschen (1957) zusammen. Weitere Standardwerke wurden: der „Übersetzungs- und Informationsdienst“ tschechischer Fachartikel (1961-1990); das „Handbuch der Tschechoslowakei“ (1966) und das „Biographische Handbuch der Tschechoslowakei“ (1969); die „Sudetendeutsche Heimatsammlungen“ (1983; 1985); von Rudolf Hemmerle (1919-2013) die „Heimat im Buch“ (1970; 1996) und das „Sudetenland-Lexikon“ (1984); unter der verdienstvollen Redaktion von Rudolf Hemmerle und Dr. Rudolf Ohlbaum (1912-2006) die biographischen Arbeiten in den „Mitteilungen des Sudetendeutschen Archivs“ (1971-1995); die beiden Dokumentationsbände zur Vertreibung „Odsun“ (2000) und „Odsun 2“ (2010). Aus der seit 2000 publizierten Reihe „Quellen und Studien zur Geschichte und Kultur der Sudetendeutschen“ sei auf den jüngst erschienen Band 9 „Internierung und Zwangsarbeit der Sudetendeutschen 1945/46“ hingewiesen.
An dieser Stelle sei auch der verstorbenen hauptamtlichen Referenten des Archivs gedacht: die Begründer des Bildarchivs Hanns Kühnel (1899-1983) und Dr. Franz X. Schaffer (1903-1963); Dr. Otto Böss (1929-1994); Edgar Pscheidt (1952-2017); Waltraud Tropschug (1941-2018).
Seit 2005 beschafft und bearbeitet das Archiv bzw. Sudetendeutsche Institut die transport- und waggonweisen Vertreibungslisten aus tschechischen Archiven und erschließt diese u. a. für die Besucher des in Aufbau begriffenen Sudetendeutschen Museums. Darüber hinaus liegen im Sudetendeutschen Institut für diesen Personenkreis auch die Findbücher des Sudetendeutschen Archivs. Das Schriftgutbestand umfasst inzwischen (Stand: 2019) 1800 laufende Meter, dazu kommen etwa 100.000 Bildeinheiten.
Schon kurze Zeit nach seiner Gründung war die Arbeit des Archivs anerkannt. So hielt der zuständige Beamte im bayerischen Arbeitsministerium Dr. Karl Jering (1914-1990) in einem Bericht 1957 fest: „..da das Sudetendeutsche Archiv tatsächlich das Gründlichste und Solideste ist, was die Sudetendeutsche Landsmannschaft auf kulturpflegerischem Gebiet geschaffen hat.“ Auch für die Zukunft sind Beratung und Sammlung von Dokumenten und Erinnerungen wichtige Aufgabenfelder des Sudetendeutschen Instituts, denen es sich in Verantwortung für das Erbe der Sudetendeutschen und der Böhmischen Länder gerne stellt!
Vorsitzende
1955 – 1987 Anton Wuschek
1987 – 1992 Dr. Heinrich Kuhn
1992 – 2000 Jörg Kudlich
2000 – 2006 Dr. Richard Grill
2006 – 2009 Reinhold Erlbeck
seit 2009 Dr. Raimund Paleczek
Geschäftsführung/Direktion
1955 – 1987 Dr. Heinrich Kuhn
1988 – 1993 Dr. Monika Glettler
1993 – 2004 Dr. Roland Hoffmann
seit 2004 wahrgenommen durch die jeweiligen Vorsitzenden
© Dr. Raimund Paleczek / Reinhold Erlbeck